Kanal X

Gesetzblatt der DDR, Berlin, den 12. Februar 1990, Teil I, Nr. 7, S. 39:
„Alle Bürgerinnen und Bürger haben das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich um Informationen und Ideen aller Art, ungeachtet der Grenzen mündlich, schriftlich oder gedruckt, in Form von Kunstwerken oder durch jedes andere Mittel seiner Wahl zu bemühen, diese zu empfangen und mitzuteilen.“

Dieser Beschluss bricht nicht nur mit der offiziellen medialen Starre, sondern eröffnet in Leipzig am Vorabend der ersten freien Volkskammerwahlen eine ganz besondere Form von Medienkunstwerk inmitten westlich ausgerichteter Gemeinschaftsantennen. Am 17. März 1990 beginnt der „Lokale Fernsehsender Leipzig – International“ (Kanal X) seine Sendetätigkeit mit einem zweistündigen Programm über und mit den zur Wahl stehenden Kandidaten gefolgt von Sendungen zwischen 20 und 22 Uhr an den drei darauffolgenden Tagen. Die wichtigsten, technischen Voraussetzungen für das hochambitionierte Projekt stellt der Medienkünstler Ingo Günther in Form eines Senders, der in der Bundesrepublik als Verstärker in sendeschwachen Regionen genehmigungsfrei zu erwerben ist, bereit.
Symbolträchtig im Haus der Demokratie – der ehemaligen SED-Bezirksverwaltung Leipzig – untergebracht, mit zwei Fernsehmonitoren, VHS-Schneidetisch, einer geringen Anzahl an Videorecordern, einer Videokamera und einer Satellitenschüssel ausgestattet, lebt das Projekt von Improvisation und Neugier.
Als unkommerziell arbeitender, überparteilicher Sender steht nicht weniger als die Vermittlung „von internationalen Nachrichten, täglicher Presseschau über künstlerische Beiträge und Kulturberichterstattung bis zur lokalen Berichterstattung in und über Leipzig“1 auf dem Programm. Die Internationalität trotz geringer technischer Reichweite stützt sich auf das umfangreiche Netzwerk von Videokünstlern und –kollektiven, deren
Beiträge ebenso ausgestrahlt werden wie MTV oder CNN. Aber nicht nur das Senden, sondern auch der Umgang mit dem neuen technischen Equipment muss erlernt werden.
Dazu erarbeiten die Initiatoren Joerg Seyde und der Kölner Medienkünstler Norbert Meissner ein Ausbildungskonzept für Medienpraktiker.
Der Antrag auf Sendegenehmigung für ein tägliches Format von 15 bis 20 Uhr auf einer unbelegten Frequenz ohne Störwirkungen auf angestammte Fernsehplätze sieht neben dem eine Anbindung an die Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig vor, um Möglichkeiten der „videokünstlerischen Produktion und Sendemöglichkeit für experimentelle Filme zu bieten“2. Da der Medienkontrollrat ebenso wenig bereit ist eine Zulassung auszustellen wie
Verhandlungen mit Privatsendern 1993 über ein 30minütiges Lokalfenster scheitern, folgen der letzten Sendung zum Golfkrieg im Februar 1991 keine weiteren nach.
Es bleibt neben dem Versuch das bestehende mediale Kanalsystem mit eigenen Inhalten zu füllen, ein Archiv, das die Veränderungen in der unmittelbaren Nachwendezeit aus den verschiedensten Kameraperspektiven begleitete.

1 – Schreiben an das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen vom 20.3.1990
2 – Schreiben an den Medienkontrollrat vom 27.3.1990

Norbert Meissner im Zeitzeugen-Interview